Gründe und Hintergründe evangelikaler Evolutionskritik

Die im Folgenden angegebenen Gründe und Hintergründe einer Evolutionskritik beziehen sich (ausschließlich) auf einen spezifischen christlichen (evangelikalen) Hintergrund, der, so wie sich die Situation dem Autor darstellt, in Deutschland (fast) nur innerhalb der Freikirchen existiert, in den USA hingegen deutlich weiter verbreitet zu sein scheint.

Warum Evolutionskritik?

Die Antwort eines (evangelikalen) Evolutionskritikers auf diese Frage könnte lauten: „Weil Evolution nicht mit meinen persönlichen Glaubensüberzeugungen zusammenpaßt.“ - Diese Antwort ist vielleicht zu kurz gefaßt, trifft aber doch einen wesentlichen Kern.

Wesentliche Merkmale der von evangelikaler Seite vorgebrachten „Evolutionskritik“ sind:

  1. ihre außerwissenschaftliche Motivation1), und
  2. ihr Ziel: Sie soll bei Gläubigen und Ungläubigen „Glaubenshindernisse“ abbauen2).

Gerade die als erster Punkt genannte außerwissenschaftliche Motivation unterscheidet diese „evangelikale Evolutionskritik“ von aller berechtigten Kritik wissenschaftlicher Theorien: Die Gründe für die vorgebrachte Kritik liegen primär nicht in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Evolutionsbiologie und deren Aussagen, sondern im wahrgenommenen weltanschaulichen Konflikt zwischen den eigenen Glaubenssätzen (Dogmen) und dem Evolutionsgedanken. Die wissenschaftliche Formulierung der evangelikalen Evolutionskritik ist sekundär, eine Folge dieses wahrgenommenen Konfliktes.

Auch wenn diese Seiten nicht für sich in Anspruch nehmen, eine schlüssige Antwort auf die Frage zu liefern, warum gerade aus dem evangelikalen Lager eine oft heftige Kritik am Evolutionsgedanken geübt wird, wollen sie versuchen, dem Interessierten ein paar Hintergründe zu liefern. Dazu wird zunächst in einer Übersicht das evangelikale Selbstverständnis dargestellt, um dann aufzuzeigen, daß alle drei hier aufgeführten Aspekte dieses Selbstverständnisses mit Grundaussagen des Evolutionsgedankens kollidieren.

Evangelikales (Selbst-)Verständnis

Um nachvollziehen zu können, woher die Kritik kommt und auf welcher Grundlage sie formuliert wird, ist es wichtig, mit dem evangelikalen (Selbst-)Verständnis ein wenig vertraut zu sein. Drei Aspekte scheinen mir dabei von besonderer Bedeutung zu sein:3)

  • Schriftverständnis
    Eine ausführliche Darstellung des evangelikalen Schriftverständnisses, wie es von vielen Freikirchen in Deutschland geteilt wird, ist die sogenannte „Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel“. Begriffe wie „Unfehlbarkeit“ und „Irrtumslosigkeit“ der Schrift sowie „Verbalinspiration“ nehmen eine zentrale Rolle ein. Einem wörtlichen Bibelverständnis wird quasi uneingeschränkte Autorität für alle Fragen des Lebens zugebilligt.
  • Gottesbild
    Gott ist der Schöpfer und Erhalter aller Dinge. Er hat am Anfang durch sein Wort alles geschaffen und ins Dasein gerufen. Er wird am Ende der Zeiten zu Gericht über diese Welt sitzen. Nur ein auf Gott bezogenes Leben ist sinnvoll und zielführend.
  • Glaubensselbstverständnis
    Die eigene Überzeugung ist der einzige Weg zum Heil. Deshalb ist es so wichtig, andere ebenfalls von der eigenen Ansicht/vom eigenen Glauben zu überzeugen. Hierin liegt der teils aggressive missionarische Grundcharakter begründet.

Teilt man eine oder mehrere dieser genannten Grundlagen nicht, verlieren die von evangelikaler Seite am Evolutionsgedanken vorgebrachten Kritikpunkte einiges an Überzeugungskraft und Grundlage.

Kollision mit dem Evolutionsgedanken

Der Evolutionsgedanke kollidiert letztlich mit allen drei oben genannten Aspekten evangelikalen Selbstverständnisses:

  • Schriftverständnis
    Der Evolutionsgedanke läßt sich mit einem evangelikalen Schriftverständnis, wie es von den Chicago-Erklärungen formuliert wird, nicht vereinbaren. Das betrifft insbesondere die Interpretation der „biblischen Urgeschichte“ (Schöpfung, Sündenfall, Sintflut) als Beschreibung realer historischer Ereignisse.
  • Gottesbild
    Gott wird als Schöpfer gesehen, der die gesamte Welt durch sein Wort ins Dasein gerufen und so geschaffen hat, wie im biblischen Schöpfungsbericht beschrieben, also nicht durch Prozesse, die Millionen und Milliarden von Jahren in Anspruch nahmen.
  • Glaubensselbstverständnis
    Der christliche Glaube ist im evangelikalen Selbstverständnis ein in der Geschichte verankerter Glaube. Nimmt man der biblischen Heilsgeschichte allerdings ihren zeitlich engen Rahmen, gerät das gesamte evangelikale Glaubenskonzept ins Wanken. Besonders heikel ist das Infragestellen der historischen Faktizität des Sündenfalls, da meist der historische Sündenfall als zwingende Voraussetzung für Gottes Heilshandeln auf Golgatha (Kreuz und Auferstehung) und damit den Kern des christlichen Glaubens verstanden wird.

Bei den hier genannten Aspekten evangelikalen Selbstverständnisses handelt es sich um persönliche Glaubensüberzeugungen. Das erschwert das Gespräch mit Andersdenkenden zuweilen erheblich. Nicht selten wird das Hinterfragen oder gar Infragestellen dieser Aspekte als persönlicher Angriff mißverstanden.

Aus solchen Erfahrungen resultiert u.a. die Wahrnehmung von Mitgliedern der evangelikalen Szene durch die breite Gesellschaft als „Fundamentalisten“ und Unbeirrbare, die um jeden Preis an ihrer eigenen Vorstellung festhalten und für Argumente nicht zugänglich sind. Letztlich führen die hier aufgelisteten Konfliktpunkte zu einer welchselseitigen Dialogunfähigkeit von Evolutionsbiologie und evangelikaler Evolutionskritik.

Eine Reihe von Zitaten aus evolutionskritischen Schriften, überwiegend aus der deutschsprachigen evangelikalen Szene, sollen aber zeigen, daß die hier genannten Konfliktpunkte tatsächlich zumindest von bestimmten Gruppierungen innerhalb der evangelikalen Szene so wahrgenommen werden. Sie sollen dem geneigten Leser ermöglichen, sich selbst ein Bild von der Argumentationsstruktur und Motivation dieser Form der Evolutionskritik zu machen.

Hinweis: Nicht jeder, der evangelikale Glaubensüberzeugungen teilt, hat zwangsläufig ein Problem mit der Evolutionstheorie. Tatsächlich gibt es viele Menschen, für die die ganze Debatte um die Ursprungsfrage keine Rolle spielt. Die hier aufgeführten Schlüsse aus dem evangelikalen Selbstverständnis auf die Evolutionskritik sind nicht zwingend, können aber je nach Betonung der genannten Einzelaspekte des Selbstverständnisses einen für den Einzelnen zwingend logischen Charakter bekommen. Aus dieser Perspektive heraus ist die Evolutionskritik der Apologetik zuzurechnen, da der Evolutionsgedanke für manchen ein ernsthaftes Hindernis auf dem „Weg zum Glauben“ (zumindest dieser Ausprägung des Glaubens) darstellt.

Kampf um die Deutungshoheit

Es gibt noch einen weiteren Aspekt in der Auseinandersetzung mit dem Evolutionsgedanken seitens der evangelikalen Szene, der weit über die Ursprungsfrage hinausweist und ebenfalls im evangelikalen Selbstverständnis begründet liegt: der Kampf um die Deutungshoheit der Welt und allen Seins, in dem sich manche Vertreter einer evangelikalen Evolutionskritik mit der Wissenschaft sehen.

Es ist gerade dieser allumfassende Anspruch evangelikaler Bibelauslegung und Weltdeutung, der alleinige Gültigkeit für sich selbst erhebt, der einerseits auf die meisten Menschen, denen diese Szene fremd ist, so befremdlich wirkt und der andererseits Motor der teilweise erbittert geführten Auseinandersetzung mit der „Wissenschaft“, insbesondere in der US-amerikanischen Öffentlichkeit, ist.

Wer andererseits den christlichen Glauben4) als einzigen Weg zum Heil ansieht, dem muß die Säkularisierung der Gesellschaft5) vermutlich zwangsläufig als das große Übel unserer Zeit aufstoßen. Darüber hinaus wird er das Festhalten der Wissenschaftler am „methodischen Naturalismus“ aus seiner Glaubenssicht heraus als Hybris des Menschen sehen, die Welt ohne Gott verstehen und letztlich ohne Gott leben zu können.6)

Siehe dazu auch den Essay „Evangelikale Evolutionskritik und Evolutionsbiologie sind wechselseitig nicht dialogfähig“.

1)
Das gilt ungeachtet dessen, daß es Versuche gibt, Teile der Kritik innerhalb des Rahmens der Wissenschaft vorzutragen. Häufig werden leider im Rahmen dieser Versuche die Grundprämissen aller (Natur-)Wissenschaften (Objektivitätskriterium, Beschränkung auf innerweltliche Erklärungen) abgelehnt oder zumindest hinterfragt und als „ontologisch“ und weltanschaulich motiviert diskriminiert.
2)
vgl. das „4. Fazit“ aus: Junker, Reinhard (2001): Jesus, Darwin und die Schöpfung. Warum die Ursprungsfrage für Christen wichtig ist, Hänssler, Neuhausen-Stuttgart: „Die kritische Auseinandersetzung mit der Evolutionslehre ist für Christen wichtig, weil dadurch bei Gläubigen und Ungläubigen Glaubenshindernisse abgebaut werden können (Denkdiakonie).“
3)
Zur Beachtung: Die hier gegebene Darstellung des evangelikalen (Selbst-)Verständnisses entspringt dem persönlichen Erleben des Autors und erhebt keinen Anspruch auf universelle Gültigkeit.
4)
hier verstanden in der spezifischen Ausprägung, daß nur eine „persönliche Beziehung zu Jesus“ und ein „absoluter Gehorsam“ gegenüber Gott, der sich unter anderem an einem Festhalten am göttlichen Schöpfungsakt in der auf den ersten Seiten der Bibel beschriebenen und wörtlich verstandenen Weise äußert
5)
die mit einiger Sicherheit infolge der Darwinschen „säkularen“ Erklärung der Lebensentstehung einen weiteren Schub bekommen hat, vgl. das berühmte Zitat von Richard Dawkins, erst Darwin habe es dem Atheisten ermöglicht, intellektuell befriedigt zu sein
6)
Mit Sicherheit sind das nicht die Beurteilungen, die in einer um Wissenschaftlichkeit und Redlichkeit bemühten Debatte angebracht werden. Es sind aber durchaus Beurteilungen, die inhaltlich zumindest von Einzelnen vertreten und artikuliert werden.
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